Ein Schwarzkehlchen-Männchen (Saxicola rubicola) gibt sich in seinem Revier nicht mit irgendeinem Ast zufrieden - stets muss es der höchste Ast in seinem Revier sein, um alles im Blick zu haben und ein kurzes Liedchen für die Weibchen zu trällern. Mit seinem schwarzen Kopf, dem weißen Kragen, der schwarzbraunen Oberseite und der rostroten Brust macht er im sogenannten Prachtkleid wirklich was her, hat sich also in Schale geworfen. Nähert sich ein Störenfried wie ich es einer bin, spreizt er unablässig die Schwanzfedern, zuckt mit den Flügeln und tackert laut vor sich hin. Dieses tackernde Schimpfen verrät mir schon von Weitem, dass Europäische Schwarzkehlchen (so heißen sie ja richtig) in der Nähe sind. Dem Weibchen fehlen die kontrastreichen Farben des männlichen Prachtkleides, vor allem das tiefe Schwarz am Kopf und auf der Oberseite. Das Gefieder des Weibchens wird von Brauntönen dominiert; es wirkt insgesamt heller und auch die rostrote Brust ist farblich schwächer ausgeprägt. Nach der Balz- und Brutzeit wechseln die Vögel vom Prachtkleid in das Schlichtkleid. Dann sind beide um ein Vielfaches unscheinbarer und sehen sich sehr ähnlich. Jungvögel wiederum ähneln den Weibchen, sind aber auf der Brust gestrichelt.
Weibchen und Jungvögel tragen also ein eher unauffälliges Gefieder, welches vor allem der Tarnung dient und an den Lebensraum der Europäischen Schwarzkehlchen angepasst ist: Offene Landschaften mit Freiflächen und niedrigem Bewuchs, die von Gebüschen durchsetzt sind und eine vielfältige Pflanzenwelt aufweisen. Denn Schwarzkehlchen benötigen als Nahrung kleines Getier verschiedenster Art (beispielsweise Insekten, Spinnen, Raupen, Würmer, Falter) und die gibt es nur dort, wo eine bunte Pflanzenwelt gedeiht. Im Miteinander von frischen und alten Gräsern sowie Stauden, im Wechsel von Braun- und Grüntönen, dem Farbenspiel der Blüten sind sowohl die Weibchen als auch die Jungvögel recht schwer auszumachen.
Wie das bei Fliegenschnäppern so üblich ist, fangen Europäische Schwarzkehlchen Insekten in der Luft, jagen sie am Boden und nutzen Aussichtswarten für den Beutezug. Als Ansitzwarte dienen nicht nur Zweige von Gehölzen. Es können auch alte Halme der Goldrute oder des Rainfarns oder die stattlichen Blütenstände der Großblütigen Königskerze sein. Hat ein Schwarzkehlchen-Pärchen ein Revier besetzt, geht es ans Nestbauen.
Europäische Schwarzkehlchen sind Bodenbrüter. Gut versteckt in einer Vertiefung zwischen den Pflanzen wird ein napfförmiges Nest aus Gräsern, Moos und kleinen Zweigen gebaut, welches mit weichen Materialien wie Federn, Haaren oder Wolle ausgekleidet wird. Oft befindet sich das Nest unmittelbar neben einem größeren Busch der Hundsrose zum Beispiel oder in der Nähe einer Hecke. Der Nestbau obliegt allein dem Weibchen, denn der Schwarzkehlchen-Mann muss ja von seinem Thron hoch oben das Revier im Auge behalten. Gelegt werden zwischen 3 und 6 Eier, aus denen nach ungefähr 14 Tagen der Nachwuchs schlüpft. Gebrütet wird für gewöhnlich zwei Mal im Jahr. Wenn der Nachwuchs das Nest verlassen hat, hält er sich noch eine Weile in Nistplatznähe auf. Verstreut und meist nur einigermaßen gut versteckt sitzen die Jungvögel auf den Ästen von Buschwerk und werden noch zwei, drei Wochen von den Altvögeln gefüttert. Die Fütterung der Jungvögel ist übrigens Sache beider Elternvögel. In manchen Jahren kann man noch Ende September Jungvögel beobachten, die von ihren Eltern gefüttert werden.
Angesichts der Tatsache, dass Schwarzkehlchen nur von März/April bis Oktober/November bei uns weilen, sind zwei Bruten bis Ende August eine beachtliche Leistung der kleinen Vögel. Den Winter verbringen Schwarzkehlchen in Süd- und Westeuropa. Zwei Bruten im Jahr und ein relativ kurzer Weg in die Überwinterungsgebiete stellen wesentliche Vorteile gegenüber dem Braunkehlchen (Saxicola rubetra) dar, mit dem sich Schwarzkehlchen manchmal den Lebensraum teilen. Das sind wahrscheinlich die Gründe dafür, dass Braunkehlchen zunehmend verschwinden, während das Schwarzkehlchen meist noch ein verlässlicher Brutvogel ist und die Bestände mancherorts zunehmen. Da weibliche Schwarzkehlchen leicht mit Braunkehlchen verwechselt werden, habe ich am Ende des Textes ein paar Fotos zum Vergleich eingestellt.
Die milden Winter führen zudem dazu, dass Schwarzkehlchen versuchen, in unseren Gefilden zu überwintern, ziemlich spät abziehen und kürzere Wege Richtung Süden zurücklegen. In 2023 habe ich ein männliches Schwarzkehlchen beobachten können, welches noch Anfang Dezember im Brutgebiet verweilte. In 2024 wiederum waren bereits Mitte März die ersten Männchen wieder vor Ort. Europäische Schwarzkehlchen lassen sich am besten während der Balzzeit beobachten und dann, wenn die Jungvögel geschlüpft sind und gefüttert werden müssen. Während der Brut sind die Vögel quasi unsichtbar, das finde ich jedenfalls. Trotz des Vorgesagten über die Bruten und den kurzen Zugweg ist auch das Europäische Schwarzkehlchen in manchen Teilen Deutschlands verschwunden oder auf dem Rückzug. Fehlende, geeignete Lebensräume durch eine ausufernde konventionelle Landwirtschaft sowie die Bautätigkeit des Menschen sind wie immer die Hauptursache. Immer mehr Brach-, Heide- und bebuschte Wiesenlandschaften müssen dem Bedarf an landwirtschaftlichen Flächen für Monokulturen oder für Gewerbe- und Wohngebiete weichen. Einmal mehr ist also der Mensch neben den natürlichen Feinden (Katzen, Marder, Fuchs, Greifvögel usw.) die größte Gefahr für das Bestehen einer Art. Umso mehr freue ich mich darüber, dass es in meiner Nähe regelmäßig mehrere Brutpaare gibt, die erfolgreich Nachwuchs aufziehen.