Es ist richtig, dass der Neuntöter (Lanius collurio) Beute wie Libellen, Käfer, Bienen oder Hummeln auf Dornen verschiedener Sträucher aufspießt. Aber anders als im
alten Volksglauben dargestellt, tut er es nicht neunmal, bevor er ein Beutetier verspeist, sondern aus Gründen der Vorratshaltung, was ziemlich schlau ist. In der großen Unterordnung "Singvögel"
gehört der Neuntöter der Familie der "Würger" an, was mitnichten damit zu tun hat, dass Neuntöter ihre Beute erwürgen. Es ist vielmehr so, dass sie die unverdaulichen Reste ihrer Beutetiere - zum
Beispiel Knochen, Haare, Chitinpanzer von Insekten usw. - wieder hervorwürgen und ausspeien. Knochen und Haare? Ja, genau. Denn Neuntöter fressen nicht nur Insekten. Zauneidechsen und Mäuse
stehen genauso auf seiner Speisekarte wie kleine Vögel.
Das Aufspießen der Beute auf Dornen dient übrigens nicht nur der Vorratshaltung, sondern ebenso der Zerkleinerung der Nahrung. Anders als Greifvögel besitzt ein
Neuntöter nämlich keine kräftigen Krallen, um die Beute festzuhalten, sondern kleine Singvogelfüße. Wenn er also ein großes Insekt oder eine Maus auf einen Dorn aufspießt, ist die Beute fixiert
und kann verspeist werden. Oft kann man Neuntöter außerdem dabei beobachten, wie sie das erbeutete Insekt auf eine feste Unterlage wie einen Holzpfahl oder Ast schlagen, um giftige Stachel zu
entfernen oder die Beute aufzubrechen. Ich finde es sehr schade, dass man diese markant gefiederten, interessanten Vögel nur wenige Monate im Jahr bei uns beobachten kann. In offenem, locker
bewachsenem Gelände, das von Gebüschgruppen durchsetzt ist, lässt er sich nieder, wenn er im Mai aus seinen afrikanischen Winterquartieren zurückkehrt. Beliebte Brutreviere stellen artenreiche
Hecken bzw. Gebüschgruppen am Rande von Feldern und Wiesen dar, sofern diese extensiv bewirtschaftet werden und ein vielfältiges Nahrungsangebot bieten. Absolute Bedingung für das Bleiben eines
Neuntöterpärchens sind jedoch Dornensträucher wie Schlehe, Hundsrose, Brombeere oder Weißdorn. Nicht nur, weil er deren Dornen - wie zuvor beschrieben - für seine Nahrung braucht, sondern auch
als Nistplatz. In ungefähr zwei Metern Höhe wird ein napfförmiges Nest gebaut, dem die Dornensträucher Schutz vor Rabenvögeln, Katzen oder Mardern gewähren. Herr Neuntöter hält sich in der Regel
auf der obersten Spitze eines Gehölzes auf, wo er entweder auf ein Weibchen wartet, sein Revier im Auge behält oder nach Beute Ausschau hält. Wenn er auf der Suche nach einer Partnerin ist, kann
ein männlicher Neuntöter sogar singen, wirklich wahr. Als ich das zum ersten Mal gehört habe, hab ich nicht schlecht gestaunt, denn bis dahin kannte ich nur die typischen krächzenden Warnlaute
der Vögel. Hat sich ein Paar gefunden, ist Frau Neuntöter nach meinen Erfahrungen zumindest während der Balzzeit nicht weit und hält sich stets in der Nähe des Männchens auf. Immer wieder
übergibt das Männchen kleine Geschenke in Form von Insekten an sie. Aufgrund der kontrastreichen Färbung des Männchens (brauner Rücken, cremeweiße Brust, schwarze Schwanzfedern sowie schwarze
Augenmaske) sind die Geschlechter gut voneinander zu unterscheiden, denn das Weibchen kommt unscheinbar bräunlich daher. Beide sind von der Schnabelspitze bis zum Ende der Schwanzfedern um die 17
cm lang.
Neuntöter sind äußerst reviertreu; man kann sie in den Wochen der Balz, Brut und Jungenaufzucht mit Sicherheit immer wieder an denselben Stellen antreffen. Das gilt
vor allem für das Männchen auf seinen hohen Warten. Jungvögel, die frisch aus dem Nest gekrochen sind, zeigen sich anfangs nur wenig scheu und lassen gut beobachten oder fotografieren. Die
Elternvögel hingegen sind immer auf der Hut und ziehen sich sofort zurück, wenn man stehen bleibt oder die Kamera auf sie richtet. Hat man die Gelegenheit, ein Neuntöterrevier regelmäßig und
häufig zu besuchen, lässt das Fluchtverhalten spürbar nach und man kommt mit der Zeit doch etwas näher an die Vögel heran. Ich suche mir gern ein gut getarntes Plätzchen und schaue den Neuntötern
bei der Jagd zu. Ihre Geschicklichkeit beim Fang fliegender Insekten ist sehr beeindruckend. Gesagt sei, dass Neuntöter aber auch zwischen Pflanzen und am Boden auf Nahrungssuche gehen. Ab und zu
konnte ich Revierkämpfen beiwohnen, an denen sich beide Geschlechter vehement beteiligen. Allerdings muss man für derartige Beobachtungen Zeit und Geduld aufbringen, denn es dauert eine Weile,
bis Neuntöter meinen, dass die Luft rein sei und sich ungeniert zeigen. Haben die Jungvögel das Nest verlassen, werden sie noch eine Weile von beiden Elternteilen gefüttert. Sie sitzen dann in
einem Busch oder auf einem Baumstumpf und fordern lautstark Futter von den Eltern. Die wiederum haben wirklich beide Schnäbel voll zu tun, um die Rasselbande satt zu bekommen. Sind die Eltern auf
der Jagd, beginnen die Jungvögel damit, selbst auf Beutefang zu gehen. Meist versuchen sie ihr Glück am Boden - argwöhnisch beobachtet von den Geschwistervögeln und wenn ein Fang gelingt, bricht
oft ein schrilles Gezanke um die Beute los. Kurz nach Verlassen des Nestes trifft man die Jungvögel eng beeinander an. Gemeinsam warten sie auf die Altvögel, um gefüttert zu werden. Mit der Zeit
entfernen sich die Jungvögel voneinander, werden selbständiger und fliegen den Eltern entgegen oder hinterher. Tja, und ab August verschwinden sie schon wieder, die Neuntöter. Zunächst machen
sich die Altvögel auf den langen Weg in ihre Winterquartiere in Ost- und Südafrika. Die Jungvögel folgen ihnen 1 bis 2 Wochen später. Viel Zeit, um diese schönen und interessanten Vögel zu
erleben, hat unsereiner also nicht. Gute Beobachtungsgebiete für Neuntöter befinden sich zum Beispiel am Staakener Hahneberg, wo die Vögel regelmäßig in den Gehegen für Schafe oder Zauneidechsen
anzutreffen sind - kein Wunder, ist hier der Tisch doch reichlich gedeckt. Aber auch auf Rügen sind die Vögel in geeigneten Gebieten noch weit verbreitet. Das zunehmende Verschwinden insekten-
und strukturreicher Offenlandschaften fordert allerdings auch unter den Neuntötern seinen Tribut, denn seine Bestände sind insgesamt abnehmend. Die nachfolgenden Fotos geben einen kleinen
Einblick in die Welt dieser gefiederten Gesellen. Die Fotos zeigen Männchen und Weibchen sowie das Familienleben der Neuntöter und geeignete Lebensräume. Ich wünsche viel Freude beim
Anschauen.